Detektivisches Denken - Die Taschenuhr - Zweite Fortsetzung
...

Haben sie etwa Erkundigungen über meine Familie eingezogen?

Watson, bitte, das habe ich nicht nötig. Also, ihr Bruder ist anscheinend in seinen letzten Lebensjahren einem eher unsteten Lebenswandel nachgegangen.

Wie können Sie das wissen.

Ich schließe das aus Andeutungen in Gesprächen mit ihnen und aus zahlreichen Indizien, die mir die Betrachtung der Uhr offenbaren.

Um meinen Bruder stand es die letzten Jahre wirtschaftlich wirklich nicht gut. Ich habe davon durch eine Cousine erfahren, die in Sheffield in seiner Nähe wohnt und ihn ab und zu getroffen hat. Er war immer ein Eigenbrödler, solange ich zurückdenken kann, also, er hatte sich schon früh aus dem Familienleben herausgezogen, kam nie zu Geburtstagen, nicht zur Hochzeit meines jüngeren Bruders. Und trotzdem, wie können Sie so stimmig und genau Schlussfolgerungen ziehen?

Erinnern Sie sich Watson, im Zug, auf der Fahrt von Baskerville zurück nach London, erzählten Sie mir, dass Ihre Familie mütterlicherseits aus Frankreich stamme und ihr Großvater zunächst in Genf lebte, von wo aus die Familie dann nach Frankreich übersiedelte.

Holmes, müssen Sie jetzt so abschweifen!

Warten Sie einen Moment.

Ja, sie übersiedelte nach Frankreich.

Nach Paris, wenn ich mich recht erinnere.

Und was hat das mit der Uhr zu tun?

Lieber Watson, anscheinend wissen Sie gar nicht, dass Sie ein recht edles Stück aufbewahren. Eine Remontoiruhr von 1893, gefertigt von Patek Philippe.

Kommen Sie zur Sache Holmes, Remontoir steht im Gehäusedeckel.

Ja Watson, aber es steht auch im Deckel Ancre und 15 Rubis.

Gut, 15 Edelsteine. Ist das ein Indiz für eine wertvolle Uhr?

Durchaus, außerdem, der zweite hintere Gehäusedeckel ist aus Gold. Der äußere hintere Deckel aus Silber, eventuell mit Beimischung, auf jeden Fall Sterlingsilber, also mehr als 90% Silberanteil im Material.

Holmes, jetzt übertreiben Sie aber. Sind Sie etwa auch Uhrenspezialist?

Nein, nein lieber Doktor. Aber es ist doch auffallend, dass Sie eine wertvolle Uhr tragen, die derart ramponiert ist, dass unkundige Personen sie doch eher nur versteckt betrachten würden. Eigentlich ein sehr schönes Erbstück.

Wieso sagen Sie Erbstück. Mein Vater hatte die Uhr vor einigen Jahren erst erhalten. Er starb vorletztes Jahr, 1907.

Watson, Sie haben mir von ihrem Familienwappen mütterlicherseits erzählt. Eine Krone sei da zu sehen.

Moment Holmes, sie sagten vorhin Patek Philippe sei der Name des Manufakturisten. Also, meine Mutter hieß mit Familiennamen Philippe.

Ja, das ist es. Also ich gehe nicht davon aus, dass ihre Familie direkt aus der „Dynastie“ stammt, das hätte man Ihnen erzählt.

Jetzt übertreiben Sie aber, Dynastie? Davon redet man bei Adligen, bei Unternehmern, bedeutenden Bankiers.

Und bei Erfindern. Ihr Urgroßonkel mütterlicherseits dürfte der berühmte Jean-Adrien Philippe
gewesen sein, der die Taschenuhr mit Kronenaufzug erfunden hat, das war ungefähr 1840, vielleicht auch ein, zwei Jahre später. Graf de Patek, einer der bekanntesten Uhrenhersteller dieser Zeit, suchte einen neuen Partner für seine Uhrenmanufaktur. Er fand ihn im Erfinder Jean-Adrien Philippe. Aus dieser Partnerschaft ging die Firma Patek-Philippe hervor.

Das ist mir nicht bekannt. Also, diese Familiengeschichte mütterlicherseits, der Kontakt zur Verwandtschaft in Frankreich war sehr sporadisch, für mich eigentlich gar nicht wahrnehmbar. Obwohl, immer nur mein Vater übernahm die Pflege der Wohnzimmeruhr, er wollte nicht, dass meine Mutter das edle Stück aufzieht und putzt. In der Schublade mit den wichtigen Dokumenten und der Geldkassette lag auch ein kleiner Schlüssel, ich erinnere mich, damit durfte nur er die Uhr aufziehen.

Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Bis noch vor fünfzig Jahren wurden auch alle Taschenuhren mit kleinen Schlüsseln aufgezogen. Die dazu notwendige Öffnung des Gehäuses zum Aufziehen der Uhr befand sich meistens hinten unten. Also da kam Schmutz hinein, ...

Holmes, sie schweifen schon wieder ab.

Aber nur etwas, die Taschenuhr hat zwar keine Öffnung für den Schlüssel, sondern ein Rad zum Aufziehen, deshalb Remontoiruhr. Aber auch ein solcher Aufziehmechanismus will bedient werden, das hinterlässt Spuren. Lieber Doktor, sie werden sich gleich wundern! Schauen Sie sich das Gehäuse doch bitte noch einmal an, genauer.

Nun gut. Ich lese hier innen, also im äußeren hinteren Deckel, da steht die Zahl 12793. Sind so viele Uhren hergestellt worden? Und hier, etwas darüber, die Angabe 0.800 Das könnte schon eher die Stückzahl bezeichnen, also das Exemplar Nr. 800. Was meinen Sie, Mr. Holmes?

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